Planung der Flexibilität – Top Down

Beteiligte Rollen Experten aus strategischen und technischen Abteilungen (Strategie, Marketing, Entwicklung)
Inputs
  • Marktforschungsdaten
  • Benchmarking-Ergebnisse
  • Trendforschungsergebnisse
  • bekannte Trends
Outputs
  • Liste relevanter dynamischer Einflussfaktoren
  • Änderungsprioritätszahl für kundenrelevante Funktionen und Produkteigenschaften
Eingesetzte Methoden

Bereits bei der Definition des Plattformsystems gilt es, vorzusehende Flexibilität aus Strategiesicht einzuplanen. Dafür werden drei Schritte in den Plattformentwicklungsprozess integriert. Im ersten Schritt werden relevante dynamische Einflussfaktoren (DEF) auf das Plattformsystem ermittelt, die im zweiten Schritt Rückschlüsse auf die in Zukunft geforderte Flexibilität des Plattformsystems liefern. Im dritten Schritt wird die Flexibilität mittels einer Änderungsprioritätszahl (APZ) quantifiziert, indem die Auftretenswahrscheinlichkeit von Änderungszwängen sowie deren Dynamik und Relevanz abgeschätzt werden.

Ermittlung dynamischer Einflussfaktoren

Im Rahmen interdisziplinärer Expertenworkshops wird Wissen über zukünftige Einflüsse auf das Produkt aus dem Unternehmen, den Märkten und dem übrigen Umfeld aufgenommen, strukturiert und für die Anforderungszusammenstellung aufbereitet. Dabei wird das Wissensmanagement durch die Dokumentation von explizitem und implizitem Wissen unterstützt und zur Erweiterung der Ressourcen, Inputs und Anforderungen brauchbar gemacht. Die Auseinandersetzung mit Einflüssen, die in der Zukunft auf das Produkt und das Unternehmen wirken, verstärkt das Denken in Zukunftsalternativen.

Abb. 4.3 Erfassungstabelle zur Ermittlung relevanter dynamischer Einflussfaktoren

Zur Erfassung der Einflussfaktoren dient die in Abb. 4.3 dargestellte Tabelle. Die vertikale Gliederung entspricht der Gliederung des Kontextmodells↗ in:

  • Technologie
  • Sozioökonomie
  • Ressourcen
  • Politik/Legislative
  • Organisation
  • Mensch

In diese Gliederung können Trends und Anregungen zur Erfassung der Einflussfaktoren vor dem Workshop eingetragen werden. In einer gemeinsamen Diskussion mit drei bis sieben Experten aus strategischen und technischen Abteilungen (z. B. Strategie, Marketing, Entwicklung, Design) werden Trends sowie konkrete Einflussfaktoren identifiziert und beschrieben. Dazu dient die horizontale Unterteilung in:

  • Wirkungsbereiche
    • Unternehmensextern (Markt, Kundenanforderungen, Technologie)
    • Unternehmensintern (Finanzen, Organisation, Produktion, Strategie)
  • Eintritt des Einflussfaktors
    • Bekannt (Zeitpunkt oder Zeitspanne)
    • Unbekannt (erwarteter Eintritt, dauerhafte Einwirkung ohne eindeutigen Eintritt, plötzlicher Eintritt, zu komplex für eine Abschätzung, Sonstiges)
  • Dynamik des Einflussfaktors
    • Einmalig sprunghaft
    • Wiederkehrend (konstant oder inkonstant)
    • Unbekannt
  • Ausprägung
    • Progressiv
    • Linear
    • Degressiv
    • Unbekannt
  • Relevanz
    1. Wenige Änderungen mit geringen Auswirkungen
    2. Mittlere Anzahl an Änderungen mit mittlerer Auswirkungsstärke
    3. Offensichtliche Änderungen und Folgeanpassungen
  • Quellen bezüglich des Einflussfaktors (woher stammen die Informationen über den Einflussfaktor?)
Lessons Learned: Ermittlung dynamischer Einflussfaktoren
  • Viel implizites Wissen ist bei den Mitarbeitern bereits vorhanden, jedoch nicht dokumentiert.
  • Die Möglichkeit der systematischen Abfrage potenzieller Einflussfaktoren und der expliziten Darstellung in der Erfassungstabelle ist von Vorteil

Die Ergebnisse des Workshops hängen in hohem Maße vom Wissen und der Kommunikation der beteiligten Experten ab. Deshalb ist bei der Auswertung der Ergebnisse zu beachten, dass subjektive Einschätzungen in die Erfassung der Einflussfaktoren mit einfließen und weiche Faktoren, wie die Gruppendynamik, die Workshop-Atmosphäre und die persönliche Einstellung zur Aufgabe, die Ergebnisse beeinflussen können.

Verknüpfung dynamischer Einflussfaktoren mit Produkteigenschaften und –funktionen

Die im vorhergehenden Schritt identifizierten dynamischen Einflussfaktoren bewirken über die Zeit Veränderungen der Produktanforderungen. Zur Ermittlung vorzusehender Flexibilität werden zunächst jene Eigenschaften und Funktionen der Produkte des Plattformsystems betrachtet, die von den dynamischen Einflussfaktoren betroffen sind. Auf der Ebene dieser kundenorientierten und möglichst lösungsneutralen Beschreibung werden der Variantenaufbau und die Kommunalität des Plattformsystems definiert.

Basierend auf den Vorgaben der Produktpolitik, die aus der Marketingperspektive den Umfang und Inhalt des Produktprogramms darstellen, werden Produkteigenschaften und -funktionen den dynamischen Einflussfaktoren zugeordnet. Die Zuordnung erfolgt im Rahmen eines Workshops mit Teilnehmern aus den betroffenen Fachbereichen und wird beispielsweise in tabellarischer Form oder in einer Matrix dokumentiert.

Die Produkteigenschaften und -funktionen werden über Merkmale (z. B. Farbe) und deren Ausprägung (z. B. grün) charakterisiert. Zusätzlich zur Zuordnung zu dynamischen Einflussfaktoren kann dann eine erste Gewichtung der Eigenschaften und Funktionen nach Kundenrelevanz und Grad der Bekanntheit der Ausprägungen zugehöriger Merkmale vorgenommen werden. Die Prognose über zukünftig geforderte und sich ändernde Eigenschaften und Funktionen wird in diesem Schritt in potenzielle Merkmale überführt.

Lessons Learned: Ermittlung vorzusehender Flexibilität
  • Die Zuordnung der Eigenschaften und Funktionen zu den dynamischen Einflussfaktoren birgt großen Diskussionsbedarf, weshalb eine gute Moderation gefordert ist.
  • Es ist wichtig, zwischen Anforderungen (geforderte Eigenschaften und Funktionen der Produkte) und Features (konkrete Lösungen, die Anforderungen realisieren) zu unterscheiden.
  • Bei der Beschreibung der Produkteigenschaften und -funktionen durch Merkmale besteht die Gefahr, den Variantenaufbau durch entsprechende Merkmalsausprägungen bereits lösungs- und technologieorientiert zu gestalten (z. B. Orientierung an vorhandenen Lösungen). Auf eine lösungsneutrale Beschreibung der Merkmale ist unbedingt zu achten.
  • Es ist zu beachten, dass einige Merkmale für bestimmte Kunden- und Marktsegmente spezifisch sind und dies für weitere Schritte des Vorgehens gegebenenfalls adressiert werden muss.

Ermittlung der Änderungsprioritätszahlen

Anschließend an die grundsätzliche Bestimmung vorzusehender Flexibilität muss bewertet werden, welche Produkteigenschaften und -funktionen als stabil und welche als flexibel einzustufen sind. Stabil bedeutet in diesem Zusammenhang, dass hinsichtlich der Produkteigenschaften und -funktionen während des Plattformlebenszyklus gar keine oder nur sehr selten Veränderungen zu erwarten sind. In diesem Fall kann angenommen werden, dass die Eigenschaft bzw. Funktion über den gesamten Plattformlebenszyklus hinweg auf dieselbe Weise realisiert werden kann und zeitlich robust ist. Für flexible Produkteigenschaften und -funktionen ist hingegen zu erwarten, dass innerhalb der Lebensdauer der Plattform neue Lösungen (Feature) zur Umsetzung der Produkteigenschaft bzw. -funktion benötigt werden.

Als Werkzeug zur Bewertung der vorzusehenden Flexibilität wird die Änderungsprioritätszahl (APZ↗) als Messgröße der erwarteten Notwendigkeit zur Anpassung der einzelnen Produktfunktionen verwendet. Die APZ dient der frühzeitigen Definition von zulässigen Änderungen an Merkmalen und deren Ausprägungen. Sie kann als quantifizierender Maßstab für den Grad der nötigen Änderungsfähigkeit gesehen werden .

Die Berechnung der APZ erfolgt über die Bestimmung der drei Faktoren Auftretenswahrscheinlichkeit von Änderungszwängen (A), deren Dynamik (D) und die Relevanz der Änderungen für den Konsumenten und Wettbewerbsfähigkeit (K) – jeweils bezogen auf ermittelte dynamische Einflussfaktoren bzw. der damit verknüpften Produktanforderungen. In interdisziplinären Expertenworkshops, bestehend aus Mitarbeitern strategischer und technischer Abteilungen, werden die Faktoren auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet. Je höher der Wert, dsesto höher ist die Auftretenswahrscheinlichkeit, die Dynamik oder die Relevanz.

Die APZ ergibt sich aus der Multiplikation der einzelnen Zahlenwerte (angelehnt an das weit verbreitete Konzept der Risikoprioritätszahl ). Durch die APZ wird damit eine Einschätzung des Änderungsrisikos für bestimmte Produkteigenschaften und -funktionen des Plattformsystems ermöglicht. Daraus ableitbar ist außerdem, welche Optionen aus technischer Sicht durch geplante Flexibilität erweiterbar und flexibel für die Zukunft gestaltet werden müssen.

Je nach Höhe der APZ und der Einzelfaktoren ist die geforderte Produkteigenschaft bzw. -funktion als flexibel oder stabil einzustufen. Die Einteilung nach den Grenzwerten für die Einzelfaktoren hat dabei Vorrang (Ausschlusskriterien). Die vorgeschlagenen Schwellenwerte zur Abgrenzung sind in Tab. 4.1 aufgeführt.

Tab. 4.1 Schwellenwerte zur Abgrenzung von stabilen und flexiblen Produkteigenschaften/-funktionen mittels APZ
Stabil Flexibel
K < 3 (Ausschlusskriterium) K > 6 (Ausschlusskriterium)
A > 8 (Ausschlusskriterium)
D > 8 (Ausschlusskriterium)
APZ ≤ 175 APZ > 175

Zur Verdeutlichung der Einteilung in flexible und stabile Anforderungen werden die betrachteten Produkteigenschaften und -funktionen in einem Schalenmodell eingeordnet. Je nachdem in welchen Zeitabständen Möglichkeiten zur Anpassung der Eigenschaften und Funktionen vorzusehen sind, werden diese in unterschiedliche Schalen unterteilt. Bei einer erwarteten Lebensdauer einer Plattform von ca. 10 Jahren kann die Einteilung in folgende drei Schalen erfolgen (vgl. Abb. 4.4):

  • 5-10 Jahre: Innere Schale (APZN < 40%)
  • 3-4 Jahre: Mittlere Schale (40% ≤ APZN < 70%)
  • 1-2 Jahre: Äußere Schale (70% ≤ APZN < 100%)
Abb. 4.4 Schalenmodell zur Einordnung der Überarbeitungsfrequenz von Produkteigenschaften und –funktionen

Die Einteilung erfolgt dabei über die normierte APZ (APZN). Diese berechnet sich aus dem Quotienten der Werte der APZ der betrachteten Eigenschaft/Funktion und der größten ermittelten APZ. Je größer die APZ, desto weiter außen im Schalenmodell sind die jeweiligen Eigenschaften und Funktionen einzuordnen. An dieser Stelle ist die Möglichkeit für eine Diskussion der APZ-basierten Einordnung vorzusehen, um beispielsweise Managemententscheidungen aufgrund von Wettbewerbsaktivitäten oder übergeordneten Strategien zu ermöglichen.

Lessons Learned: Ermittlung der Änderungsprioritätszahl
  • Die Verwendung der Bewertungsschemata erleichtert zwar eine Einschätzung, trotzdem ist es eine Herausforderung, qualitatives Wissen quantitativ einzuschätzen. Die Einigung auf einen Zahlenwert wird dabei unter anderem von der Gruppendynamik und den beteiligten Personen beeinflusst.
  • Die Methode verleitet durch die konkreten quantitativen Ergebnisse zu „Zahlengläubigkeit“.
  • Ein Vorteil der Methode ist die Übertragbarkeit auf tiefere Abstraktionsebenen der Produktarchitektur.

Planung der Flexibilität - Bottom Up

Beteiligte Rollen Experten aus strategischen (Marketing, Variantenmanagement, Produktfamilien-Verantwortliche) und technischen Abteilungen (Technik, Entwicklung)
Inputs
  • Stücklisten
  • Expertenwissen
  • Daten über Variantenhistorie
  • Änderungsprioritätszahlen(APZ)
Outputs
  • Verschiedene Modulkonzepte, kennzahlenbasierte Kategorisierung der Produktarchitektur, Standardisierungs-/Differenzierungsgrad, Analyse, Prognose sowie änderungsspezifische Klassifizierung der Variantenmerkmale und -ausprägungen, Klassifizierung der Bauteile bezüglich der benötigten Flexibilität
Eingesetzte Methoden

In dieser Phase wird im Bottom-Up-Ansatz einerseits der aktuelle Stand der Produktfamilie erfasst und analysiert, anderseits auch die zukünftig benötigte Bauteilflexibilität systematisch ermittelt. Dadurch werden die Plattform- und Nicht-Plattform-Elemente definiert und die Grundlage für die Entwicklung der modularen Produktplattform gelegt.

Analyse der Produktfamilie und deren Produktarchitektur

Die erste Phase der Flexibilitätsplanung umfasst die Aufnahme und Beschreibung der existierenden Plattform- und Modulstruktur sowie der unterschiedlichen Größen, die die Produktfamilie beschreiben . Dafür werden in Expertengesprächen Variationsmerkmale (z. B. Größe, Leistung, Farbe) gesammelt. Für einen schnellen Zugriff auf alle angebotenen Varianten können diese in einem Merkmalsbaum↗ dargestellt werden.

Die Plattform- und Modulstruktur der Produktfamilie wird mit Hilfe von Analysemethoden des Strukturellen Komplexitätsmanagements beschrieben. Dazu werden in verschiedenen Experteninterviews↗ mit Mitarbeitern der Entwicklungsabteilung und mit Hilfe technischer Dokumente die Abhängigkeiten zwischen den Bauteilen eines Referenzproduktes in einer Design Structure Matrix (DSM) aufgenommen. Dazu können verschiedene Arten von Abhängigkeiten eingesetzt werden, z. B. geometrische, stoffliche und energetische Abhängigkeiten aber auch änderungsbedingte oder informationsbedingte Abhängigkeiten. Überdies werden die organisatorischen Zuständigkeiten der Entwicklungsteams für die jeweiligen Komponenten hinterlegt, um so produktbedingte Schnittstellen in der Organisation zu identifizieren.

Die Verknüpfung der technischen Funktionen zu deren realisierenden Bauteilen wird in einer Domain Mapping Matrix (DMM) aufgenommen. Mit Hilfe statistischer Analysen werden die Abhängigkeiten zwischen technischen Funktionen und deren realisierenden Bauteilen analysiert. Zum Beispiel wird die Anzahl der Bauteile pro Funktionen ermittelt, um so Rückschlüsse auf die Modularität des Produktes zu schließen oder im Produkt verteilte Funktionen zu identifizieren.

Auf Basis der Abhängigkeiten zwischen den Bauteilen untereinander, den Funktionen untereinander sowie zwischen den beiden Domänen kann die Kritikalität der Bauteile aus den beschriebenen Sichten bestimmt werden. Durch die Kritikalität wird die Rolle eines Elements in Strukturen beschrieben . Elemente mit hoher Kritikalität sind sehr stark in die jeweilige Struktur eingebunden und können bei Änderungen viele weitere Elemente beeinflussen. Dies zieht einen tendenziell höheren Änderungsaufwand nach sich. Diese Information gibt bereits erste Hinweise darauf, wie „änderbar“ ein Element aus struktureller Perspektive ist. Je geringer die Kritikalität eines Elements, desto höher seine Flexibilität .

Weiterhin wird aus den aufgenommenen Abhängigkeiten und Informationen die aktuelle Modulstruktur bestimmt. Dazu werden Modulkonzepte aus verschiedenen Perspektiven unter Verwendung stärkebasierter Graphen und Clustering (siehe Abb. 4.14) abgeleitet:

  • Technische Module unter Berücksichtigung der aktuellen Zuständigkeiten sowie der Schnittstellen (1.), um die benötigte Koordination in der Entwicklung und bei Änderungen zu bestimmen .
  • Module aus rein technischer, physischer Schnittstellensicht (2.), was die Montageperspektive widerspiegelt.
  • Funktionale Module (3.), in denen Bauteile, die dieselben Funktionen realisieren, gruppiert sind.
  • Variantenperspektive (4.), in der die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der in allen Produktvarianten innerhalb der Produktfamilie verbauten Bauteile mittels einer Kommunalitätsanalyse↗ identifiziert sind. Die Bauteile werden in Standard-, variante und einzigartige Bauteile klassifiziert.
Abb. 4.14 Relevante Modularisierungsperspektiven

Das Wissen über den Aufbau der betrachteten Produktfamilie, der plattform- und variantenbeschreibenden Merkmale sowie verschiedener struktureller Zusammenhänge bildet die Basis für eine spätere zyklenorientierte Gestaltung der Plattformarchitektur.

Analyse vergangener Änderungen sowie Antizipation zukünftiger Entwicklungen

Der zweite Schritt beinhaltet die Antizipation zukünftiger Entwicklungen aus technischer Sicht. Ergänzend zu den im Top-Down-Ansatz in Experteninterviews aufgenommen dynamischen Einflussfaktoren wird im Bottom-Up-Ansatz ein dreistufiges mathematisches Analyse- und Prognoseverfahren auf Merkmalsebene angewendet (siehe Abb. 4.15). Dazu werden produktfamilien- und variantenbeschreibende Merkmale genutzt.

Abb. 4.15 Vorgehen zur Analyse historischer Änderungen sowie Antizipation zukünftiger Entwicklungen

In der ersten Stufe werden die Änderungsaktivität und Entwicklungsrichtung dieser Merkmale und ihrer Ausprägungen in einer historischen Analyse des Variantenspektrums identifiziert. Sie wird auf drei Detaillierungsebenen durchgeführt. Auf der obersten Ebene wird der Lebenszyklus der Varianten basierend auf deren marktbezogenem Start- und Enddatum visualisiert. Dabei können die verschiedenen Laufzeiten der über die Zeit angebotenen Varianten identifiziert und die verfolgte Variantenmanagementstrategie abgeleitet werden. Auf der zweiten Ebene werden die absoluten und relativen Wechsel der Variationsmerkmale und ihrer Ausprägungen mittels Zeitreihenanalyse↗ analysiert. Absolute Wechsel beschreiben, wie häufig sich eine Ausprägung eines Merkmals geändert hat, während die relativen Wechsel die Änderungshäufigkeit des Merkmals zwischen den einzelnen Varianten angeben. Die unterste, detaillierteste Ebene beschreibt die Änderungen von bauteilbeschreibenden Merkmalen unter Verwendung der absoluten und relativen Wechsel. Aus den gewonnenen Ergebnissen werden die Wachstumsgeschwindigkeit, vergangene Änderungsmuster (Trends) und die Aktivität der betrachteten Elemente bestimmt.

Aufbauend auf diesen Informationen wird ein mathematisches Prognosemodell erstellt, welches die zukünftige Entwicklung der Merkmale bestimmt. Diese mathematische Zeitreihenprognose↗ benutzt das sogenannte ARIMA-Verfahren (Auto Regressive Integrated Moving Average) und eine Monte Carlo Simulation zur systematischen Parametervariation. Die Prognose↗ findet nur auf den beiden untersten Merkmalsebenen statt. Dabei werden auch hier wieder die erwartete Wachstumsgeschwindigkeit, Änderungsmuster und die Aktivität der Merkmale sowie ihrer Ausprägungen bestimmt. Dies gewährleistet die Vergleichbarkeit der historischen Analyse und der Prognose.

Im letzten Schritt werden diese Kennzahlen, welche die Entwicklungsrichtungen der Merkmale in der Vergangenheit und innerhalb des Prognosezeitraums beschreiben, miteinander verglichen. So wird bestimmt, welche Variationsmerkmale robust oder flexibel gegenüber zukünftigen Änderungen gestaltet werden müssen.

Bestimmung der Robustheit und Flexibilität der Bauteile sowie deren Merkmale

In diesem Schritt wird der zukünftige Soll-Zustand der zyklengerechten Produktplattform festgelegt. Dies umfasst die Bestimmung der Bauteile und Merkmale, welche über den Lebenszyklus aus einer Änderungsperspektive robust oder flexibel sein müssen. Als Eingangsinformation dient einerseits die Änderungsprioritätszahl APZ↗ der Produkteigenschaften und -funktionen aus dem Top-Down-Ansatz. Andererseits werden die dynamischen Informationen aus der historischen Analyse und Prognose verwendet.

Zuerst werden die marktseitigen, kundenrelevanten Eigenschaften und Funktionen mit ihren realisierenden Bauteilen in einer Domain Mapping Matrix↗ verknüpft. Da die Eigenschaften und Funktionen abstrakt beschrieben sein können, können auch die bekannten Zusammenhänge zwischen den technischen Funktionen und den Bauteilen als Transformationshilfe genutzt werden. Durch die bekannten Verknüpfungen dieser beiden Domänen kann eine indirekte Abhängigkeit zwischen den Produkteigenschaften und -funktionen und den Bauteilen abgleitet werden.

Abhängig von der Dynamik der jeweiligen kundenrelevanten Produkteigenschaften und -funktionen werden die Bauteile anschließend in ein Schalenmodell eingeteilt. Trägt ein Bauteil zur Realisierung mehrerer Eigenschaften/Funktionen mit unterschiedlicher Dynamik bei, wird das Bauteil durch Extremwertbildung entsprechend der änderungsdynamischsten Eigenschaft bzw. Funktion klassifiziert.

Um genauer zu spezifizieren, welches Merkmal eines Bauteils flexibel sein muss, werden die einzelnen Merkmale der Bauteile auf Basis der jeweiligen Eigenschaften und Funktionen bestimmt und nach deren Dynamik charakterisiert. Da beispielsweise ein Türgriff zu der flexiblen Eigenschaft „Material des Griffs“ und Funktion „Auswahl an Farben bieten“ beiträgt, wird dieses Bauteil als flexibel eingestuft. Allerdings trägt das Bauteil auch zu der Eigenschaft „Geometrie des Griffs“ bei, welches als robust charakterisiert wird. Deshalb werden die Merkmale des Bauteils analog der Dynamik der jeweiligen Eigenschaft bzw. Funktion charakterisiert (siehe Abb. 4.16).

Abb. 4.16 Beispiel für die Charakterisierung der Merkmale

Lessons Learned: Festlegung der robusten Merkmale
  • Sind die Eigenschaften und Funktionen im Produkt verteilt und werden diese durch mehrere Bauteile erfüllt, werden durch die Extremwertbildung in der Regel viele Bauteile als flexibel klassifiziert.
  • Deshalb muss der Definition der Bauteilmerkmale besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
  • Diese geben die ersten Architektur regeln für die spätere Plattformdefinition vor.
  • Die robusten Merkmale repräsentieren Standardisierungspotentiale für Bauteile und/oder Schnittstellen und sind Übernahmekandidaten in die zyklengerechte Produktplattform.

Nachdem die Merkmale der Bauteile hinsichtlich ihrer zeitlichen Dynamik charakterisiert sind, werden diese Ergebnisse mit denen der Merkmalsprognose abgeglichen. Auftretende Widersprüche sollten mit Experten in Workshops geklärt werden.

Jede Methode der Antizipation ist mit einer gewissen Unsicherheit verbunden. Durch das Zusammenführen zweier unterschiedlicher Methoden mit unterschiedlicher Datenbasis zu einem Gesamtergebnis können widersprüchliche Aussagen aufgedeckt und Gemeinsamkeiten identifiziert werden. Die Verknüpfung der mathematischen und expertenbasierten Modelle erhöhen so zum einem die Planungssicherheit, zum anderen die Aussagekraft und die Akzeptanz der Prognoseergebnisse.

Das Ergebnis dieses Schrittes ist die Klassifizierung der Bauteile sowie ihrer Merkmale hinsichtlich ihrer zukünftigen Änderungsdynamik. Das Resultat stellt eine wichtige Grundlage für den folgenden Schritt dar, der die zyklengerechte Gestaltung der Produktarchitektur adressiert.